Das Märchenprinzenwünschebuch

© Beatrice Amberg

Wie alle Kinder freute ich mich als kleines Mädchen ganz besonders auf Weihnachten. Das lag aber nicht nur an dem Zauber des Heiligen Abend, der verbunden war mit dem Lichterglanz des Weihnachtsbaumes und auch nicht an den hübsch verpackten Geschenken, die ich unter dem Weihnachtsbaum auspacken durfte. Der Grund für meine ganz besondere Vorfreude lag an den alljährlichen Besuchen meiner Großmutter, die jedes Jahr zu Weihnachten bei uns verweilte.

Ich erinnere mich, es war am Abend vor dem 3. Advent, als meine Großmutter mich kurz vor dem Zubettgehen auf ihren Schoss nahm. Ihre Augen blickten mich dabei liebevoll an und ihre Hand streichelte zärtlich die meine. Wir erlebten diese Zweisamkeit nicht sehr oft, aber es waren immer ganz besondere Momente zwischen meiner Großmutter und mir. Meist erzählte sie mir dann eine ihrer wunderschönen Geschichten, die sie sich über viele Jahre ausgedacht hatte.

An diesem Abend fragte sie mich: "Mein Liebelein, hast du dir schon einmal Gedanken über Märchenprinzen gemacht?" Sie schaute mir dabei ernst in die Augen und im Flüsterton sprach sie weiter:" Es ist doch sehr wichtig, sich vorher schon einmal Gedanken gemacht zu haben, denn wie sollte man ihn sonst auf Anhieb erkennen?". Ich nickte zustimmend und flüsterte ebenso leise zurück:" Ob es dann gut wäre, wenn wir meine Gedanken aufschreiben? Sicher ist sicher. Ich kann mich dann immer wieder an meine Wünsche erinnern!"

"Eine gute Idee", meinte meine Großmutter und griff zu dem kleinen, roten Büchlein, das neben ihr auf dem Tisch lag. Das zerfranste Ende eines matt glänzenden goldenen Satinbändchens lugte zwischen den Blättern hervor. Meine Großmutter nahm das Ende vorsichtig zwischen Zeigefinger und Daumen und hob es leicht an, worauf sich das Büchlein öffnete, um sich mit zwei leeren, weißen Seiten zu präsentieren. Es war gerade so, als ob es darauf gewartet hatte. Dann nahm Großmutter ihren Füllfederhalter zur Hand. Sie mochte ihn wohl besonders gerne, denn immer wenn sie ihn mit ihren Fingern berührte, umspielte ein Lächeln ihren Mund. Großmutter schaute mich erwartungsvoll an.

Ich blickte in ihre dunklen, warmen Augen und legte meine Stirn in Falten, so wie ich es immer tat, wenn ich sehr genau nachdenken musste. Es dauerte ein kleines Weilchen, bis ich die ersten Worte fand.

"Ich wünsche mir, dass er…

.. wie einer dieser hellen, weit leuchtenden Steinfelsen an einem Sandstrand ist. Stark und sicher, ruht er dort, egal ob die Flut ihn umspült, ob die Wellen sich an ihm brechen. Nichts erschüttert ihn, im Gegenteil, seine Liebe zum Meer bestärkt ihn, am richtigen Platz, am richtigen Ort, zu sein.

Seine Augen sollen wie das tiefe Blau eines sonnigen Winterhimmels sein. 
Sie würden funkeln und blitzen, wie die Sonnenstrahlen der Wintersonne, die sich fröhlich in Tausenden von Schneekristallen, die auf den Wiesen liegen, spiegeln.

Ich wünsche mir, dass er sich mir öffnet wie ein Buch, das ich aufschlage um in ihm zu lesen. Ich möchte seinen Lebens-Geschichten zuhören können, die sich in ihm gesammelt haben. Unverblümt, ohne etwas zu verschweigen, ob nun Schönes oder Trauriges - er mich teilhaben lässt an allem was ihn bewegt - an allem was sein Leben ausmacht.

Und auch wenn er wie ein Fels sein soll, soll sein Herz weich und weit sein. Es soll Platz für all das Schöne haben, aber es soll auch all die Unstimmigkeiten auf dieser Welt empfinden können. Nicht nur seine Augen sollen sehen, sondern auch sein Herz, denn nur dann kann man fühlen und spüren, wie schön und voller Liebe das Leben ist und verständnisvoll und geduldig am Leben Anteil nehmen.

Er soll mein Baum sein, an dem ich mich anlehnen kann, beschützt von seinem Blätterdach. Groß und stark würde er da stehen, mich halten und für mich da sein. Und trotzdem würde er auch Platz für viele andere bieten, die sich bei ihm Zuhause fühlen dürfen. Voller Liebe würde er auf seine Bewohner und auf mich blicken und seine Kraft spüren lassen - tragen und halten, in Liebe.

Wie eine Sonne - warm und strahlend - egal, ob es regnet, stürmt oder kalt sein mag, soll er sein. Mit seinem sonnigen Lachen würde er Tränen trocknen und alle Widrigkeiten vergessen machen.

Tief und weit wie der Ozean und klar und rein wie ein Bergquell wünsche ich ihn mir. Er soll Tränen weinen können, die so salzig schmecken, wie das Meerwasser. Seine Worte und seine Gedanken sollen so tief wie die tiefste Stelle des Ozeans und dabei doch so klar und rein, wie das Wasser eines Bergquells sein.

Das Kind in ihm soll lebendig und verspielt sein und er soll lachen und sich freuen können, so wie ein Kind es tut: unvoreingenommen und voller Freude über das Leben und seine Überraschungen, die es ihm bietet. Wie ein Kind soll er neugierig und mit Wissensdurst dem Leben begegnen können.

Oh und er darf auch hin und wieder brummig wie ein Bär sein. Ich würde dann meinen Kopf an seine haarige Brust lehnen und sein Fell kraulen. Ich würde ihm beruhigende Worte sagen, bis sein Brummen fast wie das Schnurren eines Kätzchens klingt.

Ich wünsche mir, dass er das Wesen einer Katze hat. Selbständig und voller Durchsetzungsvermögen - geschmeidig und voller Grazie - liebebedürftig und voller Zärtlichkeit und sich seines Wertes bewusst ist.
 
Wenn seine Stimme an mein Ohr dringt, soll es wie Musik sein - seine Töne mich bewegen und durch meinen Körper ziehen, jeden Nerv zum Vibrieren bringen. Tief und voll melodischem Klang soll seine Stimme sein - mich innen drinnen berühren können."

Ich unterbrach meine Gedankengänge und fragte meine Großmutter: "Was meinst du Großmutter, ob es so einen Märchenprinzen gibt? Ich glaube, ich habe sehr viele Wünsche und Vorstellungen."

Großmutter schaute mich lächelnd an und sagte mit überzeugter Stimme: " Nein, ich denke nicht, dass es zu viele Wünsche sind. Du wirst sehen, es ist gut, dass du sie hast und genau weißt, wie du dir deinen Märchenprinzen vorstellst, denn nur so wirst du ihn auch eines Tages sofort erkennen können, wenn er vor dir steht! Wir werden deine Wünsche gut aufbewahren." 
Mit diesen Worten gab sie mir einen Gute-Nacht-Kuss und brachte mich zu Bett.

Nach diesem Abend verging eine lange Zeit und ich war inzwischen erwachsen geworden. Meine Großmutter wurde sehr krank und kurz bevor sie verstarb, rief sie mich an ihr Krankenbett. Sie hielt das kleine rote Büchlein in der Hand und gab es mir. Ich konnte ihre Stimme kaum hören, als sie zu mir sprach: "Mein Liebelein, du erinnerst dich doch an deine Märchenprinzenwünsche? Ich kann sie nicht mehr für dich aufbewahren, nimm sie und verwahre sie gut. Schau immer wieder einmal hinein und vergiss sie nicht. Sie sollten auch in deinem Herzen einen Platz haben."

Kurz darauf verstarb sie.

Das kleine, rote Büchlein legte ich in die Schatzkiste aus meinen Kindheitstagen. Ich holte es immer wieder hervor und las meine Wünsche, wie es mir meine Großmutter gesagt hatte. Nein, ich wollte sie nicht vergessen.

Im Laufe der folgenden Jahre bekam ich es fast ein wenig mit der Angst zu tun. Es gab immer wieder den ein oder anderen "Prinzen", der an meine Tür klopfte und mich erobern wollte. In jedem von ihnen entdeckte ich etwas, was meinen Märchenprinzenwünschen entsprach. Und trotzdem fehlte jedem von ihnen der ein oder andere Wunsch aus meinem kleinen, roten Buch. Bei dem einen war es die Sonne und Tiefe des Meeres. Bei einem anderen, der Fels und das klare, frische Quellwasser. Bei wieder einem anderen fand ich das Kind nicht und er konnte kein Baum für mich sein.

Ich stellte mir die Frage, ob ich vielleicht doch zu viele Wünsche oder vielleicht nur nicht genau geschaut hatte. Aber so sehr ich mich auch bemühte das Fehlende bei jedem einzelnen zu finden, ich konnte es nicht entdecken.

Ja, mir wurde Angst und bang. Konnte Großmutter sich so täuschen? Sie hatte doch so viel Lebenserfahrung und hätte mir sicher nicht irgendetwas erzählt, was nicht der Wahrheit entsprechen würde. So grübelte ich immer wieder darüber nach, lange Zeit, und suchte weiter nach meinem Märchenprinzen.

Wieder waren Jahre ins Land gegangen und das kleine, rote Büchlein sah schon ganz abgegriffen vom vielen Blättern und Lesen aus. Ich resignierte und beschloss nicht mehr nach meinem Märchenprinzen zu suchen. Ich sagte mir, dass eben nicht alle Wünsche erfüllt werden könnten, auch wenn Großmutter davon überzeugt war. Ich hatte die Suche aufgegeben und legte mein Büchlein ganz tief unten in meine Schatzkiste zurück. Dort sollte es liegen bleiben und in Vergessenheit geraten.

Es verging eine Zeit und ich hatte das kleine, rote Büchlein und meine Wünsche schon fast aus meinem Kopf und meinem Herzen verbannt.
Es war in der Vorweihnachtszeit, und ich saß, wie an vielen Abenden auch, alleine zu Hause. Ich spürte eine tiefe Unruhe in mir. Irgendetwas drängte mich nach draußen. Ich spürte die Sehnsucht nach fröhlichen Menschen, nach Lachen und glänzenden Augen. Ich konnte mich dieser Unruhe kaum erwehren und gab ihr nach. Es zog mich auf den nahen Weihnachtsmarkt.

Da stand ich nun, inmitten von festlich geschmückten Buden, Glühweingeruch, und lachenden Menschen. Ich blickte in fröhliche Gesichter und glänzende Augen. Plötzlich vernahm ich eine tiefe Stimme hinter mir: " Darf ich Sie zu einem Glühwein einladen?" Der Ton der Stimme ließ mich vibrieren und ich spürte ein Zittern in mir - nicht vor Kälte oder Angst. Es war ein wohliges Gefühl.

Ich drehte mich um und blickte in tiefblaue Augen, die mich warm und fast schon zärtlich anstrahlten. Ich lächelte und nickte. Der Bittsteller nahm mich bei der Hand führte mich hinein, in den Zauber eines Weihnachtsmarktsabend.

Sicher und sich seiner bewusst, führte mich der Unbekannte über den Platz, und steuerte eine der kleinen Buden an. Ich fühlte mich sehr wohl an seiner Seite. Ein wunderbares Gefühl durchzog mich.

Ich schaute ihn an und mit einem bubenhaften Lächeln erwiderte er meinen Blick. Sein Kopf wiegte sich zum Takt von "Jingle Bells", das aus einem der Lautsprecher klang - fröhlich trällerte er vor sich hin. Ich sah die Freude und das Blitzen in seinen Augen und konnte mich nicht satt sehen an ihnen. 
Als sich unsere Blicke begegneten, sprang ein Funke über, mitten hinein in mein Herz. Es brannte lichterloh.

Er erzählte mir aus seinem Leben und ich hing gebannt an seinen Lippen. Seine Worte sprudelten aus ihm heraus, wie das Wasser eines Bergquells - frisch und klar. Unser fröhliches Lachen klang durch die Nacht. Als es schon fast hell wurde eilte ich mit einem Glücksgefühl im Herzen nach Hause. Ich wollte ihn wieder sehen. Ein wenig ängstlich und verwirrt über all die Gefühle, die sich in mir ausgebreitet hatten, legte ich mich in mein Bett.  "Ob er mein Märchenprinz war?" kam es mir in den Sinn und ich dachte an mein kleines, rotes Buch mit meinen Wünschen. Morgen wollte ich es aus meiner Schatzkiste hervorholen. Über diesen Gedanken schlief ich mit einem glücklichen Lächeln ein.

Am nächsten Morgen eilte ich zum Schrank, in dem meine Schatzkiste lag. Ich öffnete sie und leerte aufgeregt ihren Inhalt vor mir auf den Boden.

Wo war mein kleines, rotes Buch?

Verwirrt durchwühlte ich alles. 
Es war verschwunden! 
Ich nahm mein Schatzkästchen hoch und schüttelte es, gerade so als könnte sich darin noch etwas verborgen halten. In diesem Augenblick klingelte es an meiner Haustüre.
Etwas widerwillig stand ich auf um nachzusehen, wer mich bei meiner Suche störte. Ich fühlte den Unmut in mir, doch als ich die Türe öffnete, war er verflogen.

In diesem Moment wusste ich warum mein kleines rotes Buch verschwunden war. Ich brauchte es nicht mehr: Vor mir stand er - mein Märchenprinz mit den tiefblauen Augen und dem sonnigen Lachen. Seine bärenstarken Arme umfingen mich und drückten mich zärtlich an sich. Er flüsterte mir ein "einen wunderschönen 3.Advent" ins Ohr. Ich lächelte….

Meine Großmutter hatte recht: Wenn er vor dir steht, dann erkennst du ihn, deinen Märchenprinzen. Ich erinnerte mich an den Vorweihnachtsabend, als wir meine Wünsche in das kleine, rote Büchlein schrieben und sie mir sagte, ich solle es mir gut aufbewahren und nie vergessen. Dankbar schickte ich ihr in Gedanken eine liebevolle Umarmung in den Himmel. 

Ein wunderschönes Weihnachtsfest erwartete mich…..