Heute ist doch Weihnachten

mit freundlicher Genehmigung von 

Die Uhr zeigte fünf Minuten vor Feierabend. Renate warf einen Blick in das halb leergeräumte Spielzeug-Regal. Auch in diesem Jahr lief das Weihnachtsgeschäft gut. Es war jedes Mal dasselbe. Am Tag des Heiligen Abends stürmten die Eltern, denen noch Geschenke fehlten, regelrecht den Laden. 
Renate seufzte. Sie selbst gehörte zu diesen Eltern, denen noch Geschenke fehlten. Doch im Gegensatz zu allen anderen, besaß sie nicht das nötige Kleingeld, um etwas zu kaufen. Sie dachte an ihre Kinder und fragte sich, wie enttäuscht sie sein würden. 
Andreas war alt genug, um es zu verstehen. Aber die Zwillinge Lisa und Lena ... Renate zuckte jäh zusammen, als sie von der Seite angesprochen wurde.
"Entschuldigen sie", quatschte eine rundliche Frau munter drauf los. "Ich suche dieses neue Barbie-Auto. Nicht das einfache Ding, sondern die Super-Sonderausführung." 
Es fiel Renate nicht leicht, darauf gelassen zu reagieren. Doch sie setzte ein Lächeln auf und reichte der Frau, wonach sie verlangte. Ohne einen einzigen Blick auf den Preis zu werfen, verschwand die Dame damit in Richtung Kasse. Renate ließ die Schultern hängen. 
Noch standen einige Spielzeuge in den Regalen. Ganz sicher würde nicht mehr alles verkauft werden. Es blieben immer noch einige hübsche Stücke zurück. Dinge, über die sich ihre eigenen Kinder freuen würden. 
Sie ließ ihre Hand am Rand des Regals entlang gleiten. Nur noch Sekunden fehlten bis zum Feierabend. Da kam ihr ein Gedanke, vor dem sie selbst ein wenig erschrak. 
Verstohlen blickte sie sich um. Die Kunden räumten allmählich die Gänge und auch keiner ihrer Kollegen befand sich in Sichtweite. Niemand würde es bemerken, wenn sie einfach einige Spielzeuge aus den Regalen nahm. Schließlich beging sie keinen Diebstahl, redete sie sich ein. Seit Jahren arbeitete sie schon in dem Laden und jeder wusste um ihre Zuverlässigkeit. Wenn sie erst einmal das Geld übrig hatte, wollte sie den Geschenke selbstverständlich bezahlen. 
Ein langgezogener Gong ertönte und eine freundliche Stimme forderte die letzten Kunden auf, das Geschäft zu verlassen. 
Renate zuckte mit den Schultern. Was sollte ihr schon passieren?
Mit gezielten Griffen zog sie drei Spielzeugpakete aus dem Regal. Noch einmal sah sie sich um. Doch niemand nahm von ihr Notiz. Daher schaffte sie es auch unbemerkt bis in den Personalraum. 
Sie atmete auf, denn hier war sie allein. Trotzdem zitterten ihre Finger und sie hätte beinahe die Pakete fallen lassen.
"Renate!"
Sie zuckte zusammen. Geschwind drehte sie sich um und hielt das Spielzeug hinter ihrem Rücken versteckt. Verkrampft blieb sie stehen. Durch die Tür kam ihre Kollegin Marianne gepoltert. 
"Renate!?" Mariannes Augen zeigten einen glasigen Ausdruck. "Der Chef gibt Sekt und Kuchen aus. Sozusagen eine kleine interne Weihnachtsfeier." 
"Danke ... ähm ..." Renate scharrte mit einem Fuß auf dem Boden. "Ich kann leider nicht. Ich muss nach Hause. Die Kinder ... Du verstehst?" 
Zuerst wirkte Marianne beleidigt, doch schon im nächsten Moment setzte sie ein Grinsen auf. "Klar", sagte sie. "Feier schön! Frohe Weihnachten!" 
"Dir auch ..." Aber Marianne war schon verschwunden. 
Viel länger wollte Renate nicht warten. Sie musste nur noch ihre Stunden eintragen, ihre Sachen zusammen räumen und dann schnell nach Hause fahren, um ihre Kinder mit den wahnsinnig tollen Geschenken zu überraschen. 
Am Personalausgang wurde sie jedoch aufgehalten. Hans Vorwohl - die rechte Hand ihres Chefs - erwartete sie bereits. 
Renates Gesicht lief puterrot an. Die Spielzeugpakete vor ihm zu verbergen, machte keinen Sinn mehr. Er hatte sie schon längst gesehen. Seine Miene war ernst. 
"Frau Lehmann", sagte er. "Darf ich Sie bitten, mich zu begleiten?" 
Renate verzog die Mundwinkel. "Eigentlich bin ich in Eile." 
"Das kann ich mir vorstellen." Er hielt die Hände auf seinem Rücken verschränkt und stellte sich einmal ruckartig auf seine Zehenspitzen. "Folgen Sie mir, bitte." 
Sein Ton duldete keine Widerrede, und so musste Renate ihm wohl oder übel folgen. 
"Herr Aust möchte Sie sprechen." 
Ihr Chef. Das hätte sie sich auch denken können. Sie biss sich auf die Unterlippe und suchte angestrengt nach einer guten Ausrede. Doch ihr wollte partout keine einfallen, und so stand sie nur wenige Augenblicke später schuldbewusst vor dem Schreibtisch ihres Chefs. 
"Renate Lehmann." Herr Aust - ein Mann in ihrem Alter - sah nicht einmal auf, sondern steckte seine Nase in eine Personalakte, die auf seinem Schreibtisch aufgeschlagen lag. Unverkennbar handelte es sich dabei um ihre eigene Akte. Renate schluckte einen dicken Kloß hinunter. 
"Sie sind hier nun schon seit 14 Jahren beschäftigt." Nun blickte er ihr ins Gesicht. "Hatten Sie je die Absicht, uns zu verlassen?" 
Renate ärgerte diese Anspielung. Wenn er die Absicht hatte, zu kündigen, sollte er es lieber gleich sagen. 
"Was meinen Sie damit?", fragte sie nach.  
"Nun ja." Herr Aust räusperte sich. "Wir konnten Ihr Verhalten über die Überwachungskamera verfolgen." 
Sämtliche Farbe wich aus Renates Gesicht. An die Kameras hatte sie nicht eine Sekunde lang gedacht. Ganz langsam stellte sie die Spielzeugpakete auf dem Schreibtisch ihres Chefs ab. Er schien ihre Lage regelrecht zu genießen und sich einen Spaß daraus zu machen. Sie wusste nicht, ob sie wütend sein oder sich schämen sollte. Schließlich siegte aber ihr hitziges Temperament. 
"Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe, auch wenn Sie das vielleicht denken", platzte es aus ihr heraus. "Ihre Standpauke können Sie sich sparen. Sie brauchen mir gar nicht erst mit Kündigung zu drohen. Ich gehe lieber freiwillig!" 
Ohne Herrn Aust zu Wort kommen zu lassen, stürmte sie aus seinem Büro. 
Hans Vorwohl, der alles mitangehört hatte, schüttelte den Kopf. "Eine äußerst merkwürdige Person." In seiner Stimme schwang ein herablassender Tonfall mit. 
Herr Aust wollte sich dieser Meinung nicht anschließen. Er beugte sich vor und warf einen weiteren Blick in die Personalakte von Renate Lehmann. "Hier steht, sie ist Witwe. Wussten Sie davon?" 
"Oh ja." Hans Vorwohl machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ein fürchterlicher Kerl - Vor zwei Jahren hat er stockbetrunken einen Autounfall gebaut und ist dabei gestorben. Nichts als Schulden hat er ihr hinterlassen ..." 
"... und drei Kinder?" Herr Aust fuhr mit dem Zeigefinger über die Zeilen. 
"Ja, drei Kinder. Völlig verzogene Gören, wenn Sie mich fragen." 
Aber er fragte nicht. Er legte den Kopf schief und überlegte. "Arme Frau." 
"Wie darf ich das verstehen?" Hans Vorwohl verzog das Gesicht. Mit dieser Renate Lehmann hatte er nicht das geringste Mitleid. 
"Nun ja", sagte Herr Aust, "sie hat es sicher nicht leicht gehabt. Drei Kinder und einen Schuldenberg am Hals ..." Er stützte seinen Kopf mit einer Hand ab. "... und nun denkt sie auch noch, dass ich ihr kündigen wollte." 
"Aber das wollten Sie doch!" 
Herr Aust stutzte. "Nein", sagte er entschieden. "Nein, ich habe es mir anders überlegt. Heute ist doch Weihnachten. Das dürfen Sie nicht vergessen!" 
"Wenn Sie meinen." Hans Vorwohl war mit diesem Vorschlag offensichtlich nicht einverstanden. Doch gegen seinen Chef fühlte er sich nicht in der Lage Kritik zu üben. Er reichte ihm die Päckchen. "Bitte sehr." 
"Nein, so kann ich sie nicht mitnehmen. Ich brauche noch einen Jute-Sack. Genau wie der Weihnachtsmann." 
Hans Vorwohl kam ein tiefer Seufzer über die Lippen. Trotzdem erfüllte er Herrn Aust auch diesen Wunsch und beobachtete nur wenigen Minuten später, wie dieser mit einem riesigen Jute-Sack voller Geschenke über der Schulter das Geschäft verließ.